Uwe Roz, ein kaum erwähnenswerter mittlerer Beamter im schon fortgeschritteneren Dienstalter, öffnete wie jeden Morgen den ihm zur Verfügung gestellten Rechner. Roz war in vielen Jahren zu einem durchaus brauchbaren Verwaltungselement herangereift und hatte gelernt, sowohl eigene Gedanken zu vorliegenden Sachverhalten sorgsam zu verbergen – wobei ihm in letzter Zeit gar keine mehr kamen – als auch den Gebrauch einer völlig entkernten Sprachregelung als unvermeidlichen Bestandteil des Bürokraten zu verstehen. Er wichtete das nicht mehr und fügte sich nun ohne weiteres wünschenswert glatten, sich im Unverbindlichen verlierenden Amtsfloskeln, die um ihn herumglitten wie die fettige Körperlotion, derer sein alternder Körper gelegentlich bedurfte.
Nach Eingabe eines Passwortes suchte er den wichtigsten Ort des Dienstrechners auf: die Zeiterfassung. Hier galt es, die zeitgerechte Ankunft am Arbeitsort zu dokumentieren. Und später am Tag würde das die letzte Amtshandlung sein, bevor er seine Stube wieder verlassen dürfte. Die Zeit dazwischen galt es zu verbringen. Er öffnete sein Postfach, wo er Vorgänge unterschiedlichster Art gelangweilt zur Kenntnis nahm, die in Rot waren noch nicht gelesen, die schwarzen bereits geöffnet worden.
Heute entdeckte er eines der regelmäßig hier erscheinenden Protokolle einer der wiederkehrenden Veranstaltungen, an denen teilzunehmen den höheren Herrschaften des Amtes vorbehalten blieb. Das sei nicht seine Ebene, hatte er oft genug gehört, da könne er nicht mitdenken, er habe sich auf das zu beschränken, was ihm zugewiesen sei.
Das meiste fand ohnehin so weit von ihm entfernt statt, dass er nicht einmal Kenntnis davon hatte, dass etwas stattfand, geschweige denn, dass ihm ein Inhalt jemals eröffnet würde.
Diese Veranstaltungen hier, bei denen man sich die Mühe machte, ein erstelltes Protokoll über die Organisationspostkästen zu streuen, gaben ihm jedoch hin und wieder das warme Gefühl einer Teilhabe. Und trotz vielfältiger entgegenstehender Erfahrungen ließ er es sich auch an diesem Morgen nicht nehmen, den Anhang zu öffnen um sich den Inhalt anzuschauen. Wobei ihm schon beim Öffnen klar war, dass von einem Inhalt kaum die Rede sein konnte, wurden die Inhalte doch stets anderen Ortes verhandelt.
Wie immer erstellt auf einem Standardformular, auf dem lediglich das Datum und gelegentlich eine teilnehmende Persönlichkeit der höheren Amtstätigkeit wechselte, wurde der Verlauf einer Sitzung aufgeführt, wie er sich einige Tage zuvor an bekanntem Ort abgespielt hatte.
Er las:
- „die Anwesenden erheben sich
- der Präsident tritt ein
- der Präsident bittet Damen und Herren
- die Anwesenden nehmen Platz
- die Papiere werden geordnet
- die Agenden sind geöffnet
- die Anspannung ist spürbar
- die Tagesordnung wird genehmigt
- das Protokoll wird verlesen
- die Genehmigung erfolgt einmütig
- der Präsident ergreift das Wort
- der Präsident informiert
- der Präsident kündigt an
- der Präsident zeigt sich zuversichtlich
- der Vizepräsident erinnert an
- der Geschäftsführende Beamte berichtet
- der Abteilungsleiter I weist darauf hin
- der Abteilungsleiter II teilt mit
- die Abteilungsleiterin III trägt vor
- der Unterabteilungsleiter bittet darum
- der Referatsgruppenleiter IV unterrichtet
- der Referatsgruppenleiter V unterbreitet einen Vorschlag
- die Personalvertretung regt an
- die Gleichstellungsbeauftragte legt vor
- der Arzt gibt zur Kenntnis
- der Rechtsberater stimmt zu
- die Übrigen haben keinen Beitrag
- der Präsident dankt
- die Anwesenden erheben sich
- die Sitzung ist beendet
- die nächste Einladung folgt zeitgerecht
- das Protokoll wird angefügt“.
Verschiedene Teilnehmende zeigen sich erleichtert.
Befriedigt las Uwe Roz bis zum Ende. Kaum ein Wort hatte sich geändert, es war wie es immer war und auch so sein musste. Das erfüllte ihn mit dem guten Gefühl der Dankbarkeit. Hier war er sicher.
Er griff hinter sich und wickelte behaglich sein Butterbrot
aus, der Kaffee war heiß, besser hätte ein Tag hier gar nicht beginnen können.